Im Klassenlager: 5 Tage offline

25. Mai 2022

SAC-Hütte statt Lagerhaus, Wandern statt Badi, Gletscherüberquerung statt Einkaufstour im Supermarkt: Das Klassenlager einer dritten Sekundarklasse aus Dagmersellen war ausser-gewöhnlich. In fünf Etappen wanderten die Jugendlichen von Puzzatsch nach Curaglia.

Fotos: Patrick Schilling

Gastautor, 4-Seasons
Sammelt lieber Erinnerungen als Likes
«Wo ist die Hütte?» Diese Frage höre ich immer wieder. Erstmals auf dem Pass Diesrut, dem höchsten Punkt unserer ersten Etappe. Eine fast fünfstündige Zugfahrt von Dagmersellen nach Puzzatsch und 900 Höhenmeter liegen schon hinter uns. Die Schülerinnen und Schüler, allesamt circa 15 Jahre alt, wollen wissen, wie viel ihre müden Beine noch leisten müssen. «Runter auf die Ebene, über die Hängebrücke und dann sind wir schon fast da», antworte ich. Am ersten Tag war ich noch ehrlich, im Verlauf der Woche werde ich dann aber auch ab und zu etwas flunkern bei den Zeitangaben.

«Und was ist mit meinen Snap Days?»

Neun Monate zuvor stelle ich meine Wanderwoche in einer Lebenskundestunde vor. Statt eines herkömmlichen Lagers will ich zusammen mit zwei weiteren Begleitpersonen mit der Klasse fünf Tage durch die Bündner Bergwelt wandern. «Und was ist mit meinen Snap Days?», fragen mich die Schüler und Schülerinnen. Sie merken sofort, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie reden. Die Erklärung folgt prompt: «Das ist eine Art Flämmchen, das wächst, wenn man einer Person jeden Tag eine Nachricht in der Social-Media-App Snapchat schickt. Auf keinen Fall darf man einen Tag ausfallen lassen.»

Ich hatte mit einem Sturm der Entrüstung gerechnet. Doch die Klasse akzeptiert die Wanderwoche. Nur das Handyverbot stösst auf Widerstand. Fehlende Steckdosen auf den Hütten und kaum vorhandenes Netz in den Bergen überzeugen die Jugendlichen – die Smartphones bleiben zu Hause. Die Eltern werden von mir am Abend einen kurzen Tagesbericht über die neue Schul-App bekommen. Unserem besonderen Klassenlager steht nichts mehr im Weg. 
So stehen wir im Spätsommer vor der neuen Hängebrücke auf der Greinaebene. Die kleine Mutprobe scheint niemandem etwas auszumachen, nur mir wird durch das Gewackel etwas mulmig. Kurz darauf erreichen wir die Terrihütte, die keine Dusche hat. Schnell ist Ersatz gefunden. Wagemutig stürzen sich die Jungs in den kleinen See unterhalb der Hütte.

Durch den Schneesturm 

Am nächsten Morgen stellt sich uns ein unerwartetes Hindernis in den Weg: 800 Schafe werden vor uns aus ihrem Nachtgehege entlassen. Die Schafe machen mir nichts aus, aber vor den Hütehunden habe ich gehörig Respekt. Dank den zwei Hirtinnen können wir die Herde aber rasch hinter uns lassen. Bald befinden wir uns im steilen Aufstieg zum Bergsee Laghet la Greina. Eigentlich ist dieses weglose Stück schon genügend zäh, dann setzt auch noch Schneefall ein. Die Jugendlichen erfahren am eigenen Leib, dass sich das Wetter in den Bergen nicht immer an die Vorhersage hält. Die Wolken werden mit dem Nordwind an die Hänge des Piz Terris gedrückt. Auf dem namenlosen Pass unterhalb des Gipfels ist aus dem Schneefall ein veritabler Schneesturm geworden. Als wir nach wenigen Höhenmetern Abstieg aus den Wolken kommen und tief unter uns der Lago di Luzzone in der Sonne glitzert, jubeln die Jugendlichen. Wir sind dem Schneesturm entkommen. Der weitere Abstieg zur Motterasciohütte ist steil, rutschig und mit einigen mühsamen Stellen gespickt. Doch die Hütte lockt mit einer warmen Dusche. Die Mädchen müssen dann das Angebot aber etwas zu ausgiebig genutzt haben: Drei Tage später dürfen wir in der Medelserhütte nur noch kalt duschen, weil die Hütte keinen so grossen Boiler wie die Motterasciohütte hat.

Massenschlag und Steinbock-Kino 

«Sie bekommen das 32er-Zimmer.» Bei der Ankunft auf der Scalettahütte am dritten Tag muss ich kurz schlucken. Eine Nacht mit meiner Klasse im gleichen Zimmer. Eine erholsame Nacht scheint ausgeschlossen. Immerhin schnarchen Teenager weniger als meine Altersgenossen, sie quasseln dafür doppelt so viel. Bis zur Nachtruhe um 22 Uhr habe ich zum Glück noch einige Stunden zum Verdauen. 30 Minuten später sind die negativen Gedanken weit weg. Eine Steinbockmutter führt ihr Junges über den Felsen bei der Hüttenterrasse. Wenig später gesellt sich ein junger Bock zu ihnen. Dieser hat sich mit einem wilden Ritt den steilen Berghang runter angekündigt. Er muss sich sehr auf die Steinbockdame gefreut haben. Doch anstatt die Dame zärtlich zu begrüssen, lässt er seine Hörner sprechen. Die zwei Stunden Steinbock-Kino bis zum Znacht vergehen wie im Flug.

Tag vier, Königsetappe: Für diesen Tag haben wir die ganze Woche Steigeisen, Seil und Pickel mitgeschleppt. Gefährlich ist die Route über die Fuorcla Sura da Lavaz nicht, aber in den kilometerlangen Blockfeldern verknackst man sich schnell mal einen Fuss und die Verhältnisse auf dem kleinen Gletscher sind aus der Ferne schwer einschätzbar. Der Aufstieg auf den Pass bereitet weniger Mühe als gedacht. Wir sind alle erstaunlich ausgeruht, die gemeinsame Nacht hat keine Spuren hinterlassen. Wenig später haben wir den Pass hinter uns gelassen und befinden uns auf dem Gletscher. Dieser ist schön kompakt und so dreckig, dass wir weder Steigeisen, Pickel, geschweige denn das Seil brauchen. Einige nutzen aber die Mittagspause, um das erste Mal in ihrem Leben mit Steigeisen an den Füssen übers Eis zu gehen.

Danach zieht sich der Weg. Von der Gletscherzunge bis zum Fuss des Schlussanstiegs ist die Strecke nur einen Kilometer lang. Wir brauchen über eine Stunde. Das Balancieren ist mühsam, die Kräfte schwinden und das «Piece de Résistance» liegt noch vor uns: 300 steile Höhenmeter, die letzten unserer Tour. Beeindruckend, dass die Schnellsten in 35 Minuten oben sind, die Hälfte der normalen Wanderzeit. Beim obligaten Willkommenskuchen auf der Hütte sind die Strapazen schnell vergessen. Die Nebenwirkungen des Schlussaufstiegs sind mir dann allerdings sehr willkommen: Es ist der ruhigste Abschlussabend eines Lagers in meiner gesamten Lehrerkarriere.

Zum Abschluss Sonnenaufgang

Am nächsten Morgen ist die Müdigkeit verflogen. Die Jugendlichen strahlen mit der aufgehenden Sonne um die Wette. Fast schade, können sie die einstudierten Posen nicht direkt auf Insta posten – neue Follower wären ihnen bei dieser Kulisse gewiss. Die Freude ist gross, am Abschlusstag geht es nur noch bergab. Zielort ist Curaglia, wir sind schon nach zwei Stunden dort, obwohl der Wegweiser drei Stunden prognostiziert hat. Die Königsetappe hat offenbar keine bleibenden Spuren hinterlassen.

Im Zug von Disentis nach Chur schaue ich in zufriedene Gesichter. Ich will von den Jugendlichen wissen, was sie zu Hause als Erstes machen. Unisono wird eine lange, ausgiebige Dusche genannt. Das Handy hätten sie nicht vermisst und ganz ehrlich, Snap Days seien eigentlich doof.
Ich bin erleichtert, dass die Woche unfallfrei blieb, und gleichzeitig aber auch ein wenig wehmütig, dass die wunderbare Zeit in der Natur schon vorbei ist. Die 21 Jugendlichen haben unglaublich gekämpft, wenig gemotzt, an Trittsicherheit gewonnen, gefroren und geschwitzt, Dutzende Partien Werwolf gespielt und unzählige Steine in Bächen versenkt. 

Wir haben sehr viel gelacht und sind als Gruppe zusammengewachsen. Ich bin sehr stolz auf meine Klasse, für mich ist dieses Lager ein voller Erfolg. «Auf der Abschlussreise werden wir aber einen Wellnessausflug machen!», sagen die Mädchen augenzwinkernd, kurz bevor wir in Chur ankommen.

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