Von Höhenangst zur Höhenlust

8. Juni 2020

Tims Herz hängt am Felsen. Mit dem Verein Rebolting saniert der Kletterer und Transa Verkaufsmitarbeiter abgenutzte Routen und erschliesst neue. Der Wahl-Berner teilt im Interview seine Leidenschaften; erzählt, was ihn antreibt und wie er persönlich sein nahes Umland neu entdeckt.

Fotos: Ruedi Thomi

Marketing, Office Zürich
bohrt lieber mit Fragen als in den Fels
Tim, wo ist dein Backyard?
 In den Bergen und Felsen fühle ich mich zuhause. Vor zwei Jahren bin ich aus North Wales in Grossbritannien zurück in die Schweiz gezogen und entdecke aktuell das Berner Oberland und das Oberengadin ganz neu für mich. Ich liebe es, die schrägen Orte einer Region zu erkunden: Eine alte, überwachsene Route klettern, einen schwer zugänglichen Ort erforschen. Hauptsache Abenteuer, nicht unbedingt das Populärste oder Schönste.

Mit Rebolting sanierst du in deiner Freizeit in die Jahre gekommene Kletterrouten und erschliesst neue. Warum engagierst du dich? 
Als Kind hatte ich extreme Höhenangst. Sogar aus dem Fenster lehnen war ab dem vierten Stock ohne Schwindel nicht möglich. Vielleicht hat mich das Klettern gerade deshalb so gereizt. Die Höhe war wie ein weisser Fleck auf der Landkarte meiner Bewegungsfreiheit. Ich wollte diese Angst unbedingt überwinden. Bouldern, Sturztraining und Abseilen haben mir das Vertrauen gegeben, mich buchstäblich fallen zu lassen. Jetzt kann ich nach einer intensiven Kletterei eine Aussicht geniessen, bei der mir früher schlecht geworden wäre. Meine Angst vor der Höhe hat sich in eine respektvolle Leidenschaft entwickelt.
Das will ich weitergeben.
Warum ist deine Arbeit beim Verein Rebolting wichtig?
Die Kletter-Community hat mich mit offenen Armen aufgenommen und mir so viel gegeben. Jetzt gebe ich stückweise zurück. Es ist mir ein Anliegen, dass Kletterrouten sicher und auf dem neusten Stand sind. Leider fehlt selbst bei eingefleischten Kletterern teilweise noch das Bewusstsein, dass hinter dem Planen, Bauen und Kartografieren von Kletterrouten draussen viel Arbeit, Energie und Geld steckt. Wenn ich in dieser Hinsicht mit meinem Engagement
sensibilisieren kann, umso besser.

Wie hast du den Zugang zu dieser «Schattenarbeit» gefunden?
In Wales besuchte ich als Teenager eine Outdoor-Schule. Sport- und Eisklettern, Bouldern, Trad-Klettern… das volle Programm. Einer der Lehrer bohrte viel und nahm mich mit. Durch ihn habe ich auch das Handwerk gelernt. Nach der Schule war ich in Wales in einem Verein aktiv. Zurück in der Schweiz begegnete ich im Chämliloch in Seewen einer Route mit alten, korrodierten Bohrhaken. Einen konnte ich sogar ohne jegliche Anstrengung aus dem Fels ziehen. Ich war geschockt und suchte nach einer zentralen Anlaufstelle. Als ich im letzten Sommer bei Transa Bern in der Bergsport- Abteilung meine neue Stelle anfing, lernte ich Kletter- Urgestein Pesche und Rebolting kennen. So bin ich zum Verein gestossen. Die Route im Chämliloch wurde übrigens dieses Jahr saniert.

Wem gehört so eine wilde Route überhaupt? Darf man da einfach so schrauben?
Besonders alpine Routen, aber auch Klettergärten liegen nicht immer auf Privatland. Für die Instandhaltung der Routen fühlt sich da per se niemand verantwortlich. Vor der praktischen Arbeit mit der Bohrmaschine am Felsen gilt es also in Erfahrung zu bringen, ob der Kanton, ein Landwirt oder ein Förster auf dem Gebiet das Sagen hat. Dann holen wir die nötigen Berechtigungen ein. Das funktioniert über einen Verein viel besser, als wenn jemand auf eigene Faust losziehen würde. Das dies mit hohem organisatorischem und zeitlichem Aufwand verbunden ist, scheint logisch. Wer aber aus der Kletterhalle nach draussen kommt, weiss das oft nicht und nimmt an, auch diese wilden Routen seien alle nach einheitlichen Standards gesichert und würden regelmässig geprüft. Das kann gefährlich enden.
Ein bisschen Schrauben und Bohren, so viel steckt nicht dahinter. Oder doch?
Mit dem Bohren und Schrauben allein ist es nicht getan. Bei alten Routen machen wir vor der Sanierung die Erschliesser ausfindig und erfahren Entstehungsgeschichten. Das sind immer spannende Begegnungen. Vor Ort müssen erst Zugänge freigeräumt und Standplätze eingerichtet werden. Dann gehen wir in die Wand. Alte Haken werden entfernt und abgeflext; neue Löcher geplant, gebohrt, gereinig t und hinterher mit Bohrhaken versehen. Abschliessend publizieren wir die Route auf unserer Webseite, damit die Community weiss, wo sie wieder klettern kann. Falls erforderlich, zeichnen wir auch neue Topos.

Du kletterst, seitdem du ein Kind bist. Sind deine Eltern auch in der Szene?
Weder meine Eltern noch meine beiden Drillingsschwester n klettern. Als Neunjähriger habe ich zum Geburtstag ein Seil geschenkt bekommen. Mit einem aus Draht und Panzertape gebastelten Abseil-Achter seilte ich mich trotz Höhenangst von Bäumen ab. Die Leidenschaft fürs Klettern und Abseilen hat mich nicht mehr losgelassen. Mit Fünfzehn hatte ich meine ersten Sponsoren und nach dem Studium in London und Wales habe ich einige Zeit Vollzeit geklettert.

Alles aus Eigeninitiative?
Die Lehrer meiner Schule in Wales haben mein Potenzial erkannt und mich gezielt da gefördert, wo ich meine Leidenschaft entfalten konnte. Ein ehemaliger Schüler war Kletterlegende Jerry Moffat. Er hatte in den Natursteinwänden der alten Schulgebäude Kletterrouten eingerichtet.
An freien Nachmittagen habe ich das gebouldert. Nicht alle Pädagogen waren so begeistert wie ich, aber ich hätte es nicht lassen können.

Was gibt dir das Klettern?
Man könnte denken, einer wie ich sei immer hinter dem nächsten Adrenalin-High her. Dabei bin ich eher kaffeesüchtig als ein Adrenalinjunkie. Es ist der soziale Aspekt, der mir das Klettern so wertvoll macht. Einerseits mit anderen Menschen in Kontakt zu sein, ihnen mit meinem Leben zu vertrauen und Leidenschaft zu teilen. Einander Neues beizubringen. Andererseits auch hinsichtlich der Beziehung zu mir selbst: Klettern begleitet mich seit meiner Kindheit. Es hat mich immer wieder herausgefordert und ans Limit gebracht. Dadurch bin ich gewachsen und mein Horizont wurde erweitert.
Reizt dich eine knifflige Erstbegehung mehr als das Sanieren einer einfachen Route?
Im Gegenteil. Gerade Routen mit geringem Schwierigkeitsgrad werden viel öfter geklettert als eine höher bewertete und zeigen schneller Abnutzungserscheinungen. Ich sage immer: Klettern ist ein Ego-Sport, Bolten ist für andere. Um das geht es mir: Gemeinschaft erleben, draussen sein, fachsimpeln. To have fun with friends.

Du kletterst nicht nur an Bohrhaken, sondern sicherst dich auch selbst beim Trad-Klettern. Neben dem Reiz der anderen Technik geht es darum, die Natur und den Felsen zu schonen und keine Spuren zu hinterlassen. Steht das nicht im Gegensatz zu deinem Engagement, neue Routen zu bohren?
Bei Rebolting liegt unser Fokus mehr auf der Sanierung als auf der Neuerschliessung. Es besteht aber durchaus ein Spannungsfeld in der Ethik von Sport- und Trad-Klettern. Es ist immer wieder spürbar, wie Abenteuerlust auf Sicherheit prallt und sich die Geschmäcker unterscheiden.

Wie zeigt sich das?
Ob man an einer alpinen Mehrseillängen-Route auf einer Strecke von zwanzig Metern drei rostige Schlaghaken durch Bohrhaken ersetzt, ist für einige vernünftig und für andere ist es schon fast blasphemisch. Da muss man behutsam vorgehen. Ich persönlich finde, man muss neben einen schönen Riss keine Bohrhaken setzen, weil man sich genauso mit einem Klemmkeil sichern könnte. Das Abenteuer soll erhalten bleiben. Aber ob Trad-Klettern oder nicht: Der Naturschutz hat oberste Priorität. Für die Brutzeiten von Vögeln und Wildruhezonen habe ich als Rebolter grössten Respekt.

Wo stehst du im Ethik-Spektrum zwischen Sicherheit und Abenteuer?
Ich bin einerseits Materialfreak und liebe es, neues Equipment zu testen, und schätze die Entwicklung der Technologie enorm. Moderne Spreizdübel-Systeme oder wiederverwendbare Verbundhaken lassen mein Herz höherschlagen.
Andererseits war ich als Kletterneuling oft sehr clean und minimalistisch am Berg: Als Teenager und Schüler konnte ich mir kein ganzes Set Friends leisten, geschweige denn das Material, um zu bohren. Ich bin also mit ein paar wenigen Klemmkeilen losgezogen. Die Limitierung machte mich erfinderisch und hat meine Technik differenziert. Heute habe ich meinen Materialschrank auf einen ganzen Keller ausgeweitet. Trotzdem mag ich die Herausforderung des Wenigen und packe je nach Klettergebiet und Route meinen Rucksack ganz anders.

Was bedeutet Nachhaltigkeit für dich?
Es gibt für mich eine Mikro- sowie Makroebene der Nachhaltigkeit: Früher wurden Karabiner und Ringe direkt an eine Kette geschweisst und in den Felsen gebohrt. Ist ein solcher Karabiner abgenutzt, muss der ganze Standplatz
ausgetauscht werden. Heute machen wir es so, dass wir statt geschweisster Sicherungsringe modernes Material wie austauschbare Stahl-Karabiner benutzen, um auf Dauer weniger Material-Verschleiss zu verursachen und die Felsen weniger zu durchlöchern.

Und die Makroebene?
Im Grossen und Ganzen sehe ich das Sanieren als einen fundamentalen Beitrag für die langfristige Erhaltung von Klettergebieten, die sicher sind, Spass machen und das Erlebnis fördern. Dann wird die Natur geschätzt und folglich geschützt. Und die Szene bleibt für Kletter-Freunde aller Levels leicht zugänglich.
Wie reagieren andere Kletterer auf euch, wenn ihr an Routen bohrt und schraubt?
Ich habe bisher nur positive Erfahrungen gemacht. Jedes Mal kommen wir ins Gespräch und es wird offensichtlich, dass für unsere Arbeit im Hintergrund kaum
Bewusstsein besteht. Das stimmt die Kletterer oft nachdenklich und führt zu einem Aha-Moment. Wenn daraus dann Unterstützung und Engagement wird, kann unsere Arbeit wachsen. Das wiederum stärkt die Community.

Was empfiehlst du denen, die jetzt auch mit anpacken wollen?
Auf eigene Faust losziehen halte ich für keine gute Idee. Wenn das Know-how fehlt, macht es dir nicht lange Spass und im schlimmsten Fall gefährdest du andere. Fehler beim Bohrhakensetzen können Leben kosten. Schliess dich lieber einem Verein wie Rebolting an und dann schauen wir gemeinsam, wie wir dich einsetzen können. Was wir aktuell brauchen sind Gönner und solche, die die Message in ihre Community weitertragen.

Ich bin in einem alpinen Klettergebiet und mir fällt ein durchgescheuerter Abseilkarabiner auf. Wem melde ich das? 
Auf der Webseite von Rebolting kannst du dein Anliegen in ein Formular eintragen. Wir führen eine Liste und planen dann Sanierungen ein. Auch kommunizieren wir dort Steinschläge, Wildruhezonen und gesperrte Klettergebiete.

Tim, was wünschst du dir für die KletterCommunity in deinem Umland?
Zu meinem Wirkungskreis gehört mehr als die Natur. Menschen machen den Bergsport für mich erst lebendig. Ein offenes Mindset, Hilfsbereitschaft und ein starker Zusammenhalt sind das Beste. Ich wünsche mir, dass diese Verflochtenheit noch mehr wächst und alle mit offenen Augen durch die Berge gehen und an diejenigen denken, die vorab geleistet haben und an die, die noch kommen werden.

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