Munter rauf und runter

17. Januar 2022

Die Urner Haute Route gilt nicht nur als die Skidurchquerung mit dem besten Abfahrtspotenzial in den Westalpen, man findet auch deutlich ruhigere Momente als auf den berühmteren Alternativen.

Fotos: Julian Rohn

Autor, 4-Seasons Magazin
Wort- und Höhenmeter-Akrobat
Thomas hat eine Schraube locker. Besser gesagt: Sie fehlt. Schon im Zug nach Realp hatte er bemerkt, dass sich eine Schnalle an seinem Skischuh gelöst hat. Die verantwortliche Schraube muss er bei unserem Sprint zum Bahnsteig in Luzer­­n verloren haben. Jetzt steht er im Keller der Albert-Heim-Hütte und der Hüttenwirt Roman kramt durch ein paar Käste­­n. «Schau mal, ob davon was passt», sagt er und stellt eine klein­­e Schraubenauswahl auf die Werkbank. Zum Glück pflegt Roman auf seiner Hütte eine gut sortierte Werkstatt, sonst hätte Thoma­­s die kommenden Tage mit offenem Skischuh fahren müssen. Im Aufstieg vielleicht kein Problem, aber in der Abfahrt wäre es mindestens herausfordernd geworden. Denn wir sind auf der Urner Haute Route unterwegs, einer fünftägigen Skihochtour von Realp nach Engelberg, die besonders für ihre guten Abfahrten bekannt ist.

Praktisch immer Neuland

Im Gegensatz zu anderen Skidurchquerungen, wie etwa der klassischen Haute Route von Chamonix nach Zermatt, kann man auf dieser Tour auch in der Hochsaison noch einsame Tage erwischen. Wir sind deshalb extra unter der Woche gestartet. Zwar ist am Abend auf der relativ leicht erreichbaren Albert-Heim-Hütte durchaus was los, aber am nächsten Morge­­n brechen nur insgesamt sechs Leute in Richtung Lochberg und zur Überschreitung zum Göschener­alpsee auf.

Das Tolle an Durchquerungen ist ja, dass sie immer ein kleiner Aufbruch ins Ungewisse sind. Es gibt einen Startpunkt und ein Ziel. Dazwischen hangelt man sich von Hütte zu Hütte durchs Gebirge. Auf der einen Seite geht es den Berg hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. So liegt praktisch immer Neuland vor einem. Selbst wenn man die Strecke schon kennt, weiss man nie ganz genau, wie die Schneeverhältnisse sind oder wo die Gletscherspalten offen sind. Heute beschäftigt uns die Frage, ob uns die Eisfläche des Göscheneralpsees trägt. Weil sie das vermutlich nicht mehr tut, müssen wir den längeren Weg aussen um den See zur Chelenalphütte nehmen.

Auf der Hütte übernachten heute ausser uns nur noch ein französischer Bergführerausbilder aus Chamonix und seine Frau. Wir erreichen die Hütte zwar schon am frühen Nachmitta­­g, aber es wird auch kaum noch jemand kommen. Der Zustieg ist in der Frühlingssonne schnell durch Nassschneelawinen bedroht. Wir sitzen derweil sicher auf der Hüttenterrasse und studieren die Linien, die man gegenüber am Schneestock mal klettern könnte. Am Abend zaubert der Hüttenwirt Remo für uns vier, was die Vorratskammer so hergibt. Er und sein Schwiegervater sind erst wenige Stunden vor uns aufgestiegen und freuen sich auf die kommenden Tage. Die Hütte öffne­t im Frühling nur kurze Zeit für die Skitouren­geher auf der Urner Haute Route.

Für den nächsten Tag ist eigentlich eine kleine Störung vorhergesagt, deshalb sind wir froh, als am Morgen keine Wolke­­n in Sicht sind. Es steht das Sustenhorn auf dem Programm – höchster Gipfel der Urner Haute Route und ein beliebtes Skihochtourenziel von der Sustenpassstrasse. Die Abfahrt vom Gipfel ist nicht schwer, führt aber über den Steingletscher, und im Nebel wollen wir nicht zwischen den Spalten navigieren müssen. Unten am Berghotel Steingletscher ist es dann für eine Nacht mit der Einsamkeit vorbei. Über die Passstrasse ist der beliebte Alpinstützpunkt im Frühling auf Ski aus dem Gadmertal gut zu erreichen. Dafür bekommen wir hier soga­r den Luxus einer heissen Dusche.

Schon am nächsten Morgen spuren wir wieder alleine hi­nauf zum Fünffingerstöck. Wir müssen uns beeilen. Die Abfahrt zum Susten­brüggli bekommt früh Sonne und ist schon gut aufgefirnt. Auf der Sustlihütte sind wir am Abend wieder nur zu viert. Die Franzosen sind gestern nach dem Sustenhorn in Richtung Trifthütte abgebogen. Dafür gesellen sich jetzt noch ein Bergführer aus Engelberg und sein Gast dazu. Alle sitzen an eine­­m Tisch, auch die Hüttenwirte Agi und Kari kommen zum Essen dazu. Auf dem Weg von Chamonix nach Zermatt müsste man jetzt vor lauter Andrang auf den Hütten in Etappen essen und sich in den Lagern stapeln.

Grosse Abfahrt zum Schluss

Die beeindruckende Südwand des Titlis haben wir bereits vom Fünffingerstöck gesehen, aber am nächsten Tag können wir den Engelberger Hausberg praktisch greifen. Noch eine grosse Abfahrt mit fast 1800 Höhenmetern liegt vor uns. Vom Gipfel des Grassen geht es an der gleichnamigen Biwak­hütte (mit eigenem Weinlager!) vorbei über den Firn­alpeligletscher immer Richung Engelberger Tal. Irgend­wann unten im Wald wird der Schnee dünn. Die letzten Meter müssen wir tragen. Am Bahnhof in Engelberg gibt es zum Abschluss eine Rivella in der Sonne – und die neue Schraube an Thoma­­s’ Skischu­­h hält immer noch.

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