Schneebuffet
11. Mai 2021
Ein Jahr lang driftete der Forschungseisbrecher «Polarstern» festgefroren im Eis durch die Arktis. Die beiden Forschenden Julia Schmale und Martin Schneebeli waren an Bord.
Fotos: Alfred-Wegener-Institut
Julia, wo warst du heute vor gut einem Jahr?
Julia: Auf dem russischen Eisbrecher «Kapitan Dranitsyn» mit Kurs auf den Nordpol. Dort war der deutsche Forschungseisbrecher «Polarstern» eingefroren – unser Ziel. Während wir uns langsam durch das Polareis arbeiteten, schrumpften unsere Treibstoffreserven viel schneller als geplant …
Das klingt abenteuerlich …
Julia: War es auch! Auf dem Eis war ungewöhnlich viel Druck, was die «Dranitsyn» extrem verlangsamte und den erhöhten Treibstoffverbrauch verursachte. Trotzdem gab die Crew der «Dranitsyn» alles und fand mithilfe von Satellitenbildern und durch geschickte Kursführung immer wieder Rinnen im Eis, um uns vorwärtszubringen. Schliesslich konnte ein weiterer Eisbrecher ins Polareis fahren, um die «Dranitsyn» auf ihrem Rückweg zu treffen und aufzutanken. Letztendlich musste die «Dranitsyn» einen Weltrekord aufstellen, um uns zur «Polarstern» zu bringen: Nie zuvor war ein dieselbetriebenes Schiff mitten im Polarwinter so nah an den Nordpol vorgedrungen.
Martin, du warst zu diesem Zeitpunkt schon auf der «Polarstern»?
Martin: Genau, ich war im Dezember gekommen, habe Julia bei der Übergabe gesehen und bin dann mit der «Dranitsyn» zurückgefahren. Auch die Rückfahrt war sehr speziell: Das Nachtanken auf halber Strecke dauerte eine ganze Woche. Und dann war eine ganze Zeit lang nicht klar, ob wir wegen des Lockdowns überhaupt in Tromsø anlegen dürfen oder ob wir nach Murmansk ausweichen müssen.
Wie hast du die Arktis erlebt, Martin?
Martin: Ich war während der Polarnacht dort. Das heisst: 24 Stunden Dunkelheit mit sehr tiefen Temperaturen, starken Winden und lebensfeindlichen Bedingungen – also eine wirklich extreme Umgebung. Rückblickend gab es aber natürlich auch lustige Momente: Einmal kam ein Polarfuchs zum Schiff. Er hat alle Kabel angenagt und ist dann schnell wieder verschwunden.
Julia, wie sah es bei dir zwei Monate später aus?
Julia: Mit den steigenden Temperaturen wurde das Eis immer dynamischer und es wurde täglich etwas länger hell. Alles bewegte sich, Rinnen haben sich aufgetan und wenn die Eisplatten auf andere Eisplatten stiessen, bildeten sich riesige Pressrücken. Das war ein krasser Kontrast zum Alltag in der Schweiz. Wir hatten «Forschungs-Städte» für die Teams »Schnee und Eis», «Atmosphäre», «Bio-Geo-Chemie», «Ökosysteme» und «Ozean» aufgebaut. Das Erste, was ich morgens immer gemacht habe, war auf die Brücke zu gehen, um zu schauen, wie sich die Welt draussen verändert hat. Manchmal kamen wir plötzlich nicht mehr zu unseren Geräten, weil sich offenes Wasser aufgetan hatte. Wir mussten täglich flexibel auf die veränderte Umgebung reagieren und neue Wege durch die Eislandschaft finden. Teilweise mithilfe von Aluminiumleitern, einem Floss oder Kajak, um Wasserwege zu überqueren. Manchmal benutzten wir Drohnen, um uns einen Überblick zu verschaffen, bevor wir mit unseren vollgepackten Pulkas losgezogen sind.
Wie war das Leben an Bord?
Martin: Man lebt natürlich mit vielen verschiedenen Menschen sehr eng beieinander.
Julia: Es gab aber neben der täglichen Forschungsarbeit auch viele Möglichkeiten, sich zu beschäftigen: Freitagabend Wasserball im bordeigenen Pool und Brettspiele. Eine Gruppe hat klassische Musik gehört. Sonntagabend Fussball und Frisbee auf dem Eis und mittwochs gab es immer einen Spaziergang. Einmal hat sich ein drei Meter hoher Pressrücken aufgefaltet. Wir haben Müllsäcke mit Schnee gefüllt und sind runtergerutscht. Einmal sind wir sogar zelten gegangen …
Ihr habt auf dem Eis gezeltet?
Julia: Ja, mit durchgehender Eisbärenwache, versteht sich.
Wolltet ihr näher bei euren Instrumenten sein?
Julia: Nein, das war aus purem Spass. Die Idee war, das Zelt hinter einen Pressrücken zu stellen, vielleicht einen Kilometer vom Schiff entfernt. Gerade so weit, dass man es nicht mehr hören und sehen konnte und den Eindruck hat, man sei weit weg.
Ihr wart ohnehin sehr weit weg von der Zivilisation …
Julia: Stimmt, zeitweise waren wir weiter weg von der Zivilisation als die Astronauten auf der ISS.
Hat sich die Abgeschiedenheit bemerkbar gemacht?
Julia: Mir ist das im April noch mal sehr bewusst geworden: Eigentlich hätte es alle zwei Monate einen kompletten Austausch der Besatzung geben sollen. Aber wegen Corona konnte die dritte Ablösung nicht reisen. Wir wussten nicht, wann und wie wir nach Hause kommen würden. Natürlich kam auch die Frage auf, wie lange der Treibstoff und das Essen noch reichen würden. Zeitweise stand die ganze Expedition auf der Kippe. Letztendlich verliess die «Polarstern» im Juni nach 3400 Kilometern Drift ausserplanmässig die Scholle. Vor Spitzbergen wurde das Personal gewechselt und Nachschub gebunkert, bevor das Schiff ins driftende Eis zurückkehrte. Für mich waren aus zwei geplanten Monaten an Bord viereinhalb geworden.
Wie wird man als Forscher Teil von so einer spektakulären Expedition? Die Plätze waren doch sicher sehr begehrt?
Martin: Im Prinzip konnten alle mitmachen. Zunächst haben wir eine zweiseitige Projektidee eingereicht. Dann vergab das wissenschaftliche Kommitee eine provisorische Zusage an die Projekte, die für MOSAiC am meisten Sinn machten. Danach mussten wir die Gelder beschaffen: Wir beide wurden finanziell vom Swiss Polar Institute unterstützt, Julia bekam zusätzlich Gelder vom Schweizer Nationalfonds. Was übrigens nicht selbstverständlich ist: In der Wissenschaft zu planen, ist mit vielen Unsicherheiten verbunden. Vielleicht vergleichbar mit denen der Pandemie. Leider ist es eben nicht so, wie viele Leute glauben: dass Forscher einfach forschen können. Forschung ist auch ein Business und das Geld fällt nicht einfach vom Himmel.
Was war überhaupt das Ziel dieser extrem teuren und aufwendigen Expedition?
Martin: Ja, es war schon immens aufwendig – die teuerste arktische Expedition aller Zeiten.
Julia: MOSAiC steht für «Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate». Das oberste Ziel war also ein besseres Verständnis des arktischen Klimasystems. Es wurde aber auch auf vielen anderen Ebenen geforscht.
Martin: In den bisherigen Klimamodellen sind selbst die Parameter für die Vorhersage des Meereises nicht genau. Die Aussage ist zwar immer dieselbe: In diesem Jahrhundert verschwindet das Meereis. Aber wenn man es genauer wissen will, dann wird es aktuell noch schwierig. Die Modelle beinhalten zu wenig Prozessverständnis. Denn es gab aus der Zentralarktis praktisch keine Daten, weder aus einem durchgängigen Jahr noch aus dem Winter. Die aktuellen Klimamodelle weichen in ihren Vorhersagen um mindestens einen Faktor drei voneinander ab. Also zum Beispiel darin, ob die Temperatur um 5 oder 15 Grad steigt. Das grosse Ziel war also, Prozesse in der Arktis zu verstehen, um die Klimamodelle zu verbessern.
Hätte es eine Expedition wie MOSAiC nicht schon früher geben müssen?
Julia: Es ist nicht so, dass wir die Allerersten waren. Die SHEBA-Expedition Ende der 90er Jahre ist zwar nicht so bekannt, aber damals haben US-Amerikaner über ein paar Monate hinweg ähnliche Messungen in der nordamerikanischen Arktis gemacht.Martin: Es gab auch in der Barentssee kleinere Drift-Expeditionen, zum Beispiel mit einem Zehn-Personen-Schiff. Aber die «Polarstern» mit 50 Leuten Besatzung, 50 Forschenden und zig Tonnen Forschungsinfrastruktur ist natürlich eine ganz andere Dimension. Auch von den Kosten und der Logistik her. Diese Expedition war nur möglich, weil es eine grosse internationale Kooperation gab.
Julia: Beispielsweise wären wir ohne Russlands Know-how nie so weit gekommen. Die Russen haben wissenschaftliche Drift-Stationen in der Arktis. Das ist nur medial bei uns in Europa nicht so präsent.
Wie sah deine Arbeit vor Ort konkret aus, Martin?
Martin: Als Schneeforscher haben wir Schneeprofile gemessen und Schneeproben gegraben, die wir später an Bord im Computertomografen gescannt haben. Wir lagen teilweise bei 30 Grad unter Null und starkem Wind zwei Stunden auf dem schneebedeckten Meereis. Man bewegt sich nicht – und der Wind bläst einem die meiste Zeit voll ins Gesicht.
Wie hält man sich da warm?
Martin: Drei Lagen Kleidung plus zusätzliche Isolation. 20 Minuten hat das Anziehen gedauert. Das Gesicht zu schützen war das Schwierigste: Eine Brille kann man nicht tragen, die beschlägt sofort. Und der Gesichtsschutz war nach zwei Stunden draussen einfach ein Stück Eis.
Welchen Einfluss hat der Schnee auf die aktuellen Klimamodelle?
Martin: Schnee isoliert und je dicker die Schneedecke, desto langsamer wächst das Meereis darunter, weil es ja von unten praktisch gewärmt wird. Wir haben gesehen, dass die Schneehöhen schon auf kleinen Flächen grossen Schwankungen unterliegen. Aber Klimamodelle rechnen momentan noch mit Durchschnitts-Schneehöhen über riesige Gebiete. Schon bei diesem recht einfachen Wert greifen die Modelle auf ungenaue Annahmen zurück und können so die Dicke des Meereises nicht richtig vorhersagen.
Julia: Die Arktis hat grossen Einfluss auf Meeres- und Luftströmungen – und die wiederum beeinflussen das Wetter in Mitteleuropa und den USA.
Julia, du bist Atmosphärenforscherin an der EPFL. Was hast du herausgefunden?
Julia: Auch die Atmosphären-Chemie hat sich die wissenschaftliche Gemeinschaft bisher viel simpler vorgestellt. Aber es existieren viel mehr Substanzen, als wir gedacht haben. Besonders spannend war der Übergang vom Winter in den Sommer: Wir haben eine solche Vielfalt an chemischen Verbindungen und Partikeln gefunden, die Kondensationskeime für Wolkentröpfchen bilden – Halogene, Emissionen von Algen im Wasser und im Eis. Schwebeteilchen, die schon seit Monaten in der Atmosphäre hingen. Aber auch ganz frische Partikel, wie aufgewirbelten Schnee. Vielfältiger als gedacht sind auch die Prozesse, die diese Substanzen auslösen. Noch sind viele Nüsse zu knacken, aber vieles scheint beizutragen: Schneeoberflächen, wie sie Martin untersucht hat, Sonnenlicht, teilweise offene Rinnen oder die mikrobiologische Aktivität.
Was hat euch denn ausser diesen Ergebnissen am meisten überrascht?
Martin: Beim Schnee sind wir noch sehr am Anfang der Datenauswertung. Aber wie sich die Schneedecke bildet, das haben wir uns nicht so vorgestellt. Das Meereis schmilzt nicht einfach gleichmässig von oben nach unten, sondern zerbröselt in ein bis zwei Zentimeter grosse Kristalle. Diese gefrieren dann am Ende des Sommers wieder zu porösem Eis, das sich während des Winters zu «Schnee» umwandelt. Das Meereis überdauert den Sommer und wird dann zu Schnee. Das ist der Riesenvorteil dieser Expedition: Auf der MOSAiC konnten wir den ganzen Jahreszyklus sehen. Hätten wir nur einen Teil des Jahres beobachtet, wäre dieser Effekt nie aufgefallen.
Julia: Für mich war wieder der Übergang vom Winter in den Sommer spektakulär: Anfang April haben wir ganz alte Luftmassen gemessen, die sich schon lange in der hohen Arktis bewegten. Auf einmal schlug es um und die Luftmassen kamen von Süden. Es hatte plötzlich andere Wolken und die Farbe des Himmels änderte sich. Innerhalb von 42 Stunden stieg die Temperatur um 26 Grad. Nach diesem Ereignis war quasi Sommer. Und obwohl dieser rasche Umschwung im Prinzip etwas völlig Gewöhnliches ist, war es total spannend, ihn live mitzuerleben.
Selbst durch die Webcam kann ich erkennen, wie sehr eure Augen gerade leuchten.
Julia: Ja, man konnte einfach 24 Stunden am Tag Dinge erleben, die man normalerweise nicht erlebt. Für uns Forschende war das wie ein reichhaltiges Buffet, an dem man sich kaum satt essen kann. Man sieht und lernt und ist fasziniert. Man versteht Dinge, über die man sich vorher keine Gedanken gemacht hat.
Martin: Ich finde das Bild vom Buffet sehr schön. Die Zeit in der Arktis war schon wirklich sehr reichhaltig – nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht. Und die Auswertung der gewonnenen Daten wird uns noch viele Jahre beschäftigen.
Und was macht euch Sorgen?
Julia: Erschreckend war für mich ein Moment Mitte April, als wir erste Schmelzspuren entdeckten. Damit hätte niemand von uns gerechnet! Ich habe vor ein paar Jahren im August Regen am Nordpol erlebt und war beunruhigt. Aber Schmelze und Regen im April unweit des Pols ging über das Vorstellbare – und über alle Vorhersagen der vorhandenen Klimamodelle – hinaus.
Martin: Wenn die Klimamodelle nicht stimmen, können wir nicht sagen, wie das Wetter in 30 Jahren sein wird. Wie sollen wir Strassen, Flüsse, Trinkwasserversorgung, Elektrizitätsversorgung, Windkraftwerke und Landwirtschaft planen? Es ist wirklich dramatisch, wie die arktische Eismasse abnimmt. Um 1900 war das Meereis doppelt so dick und die Wintertemperaturen 10 bis 20 Grad kälter. Man kann jetzt natürlich sagen: «Was geht uns das an?» Aber wenn wir uns anschauen, welche riesigen Probleme so ein «simples» Virus aktuell macht. Was passiert dann erst, wenn sich ganze Wettersysteme ändern, weil das Meereis fehlt? Darum machen wir diese Forschung. Und darum ist sie wichtig.
Es klingt für mich wie Spagat – ihr forscht begeistert und sorgt euch gleichzeitig, was die Ergebnisse für unsere Zukunft bedeuten ...
Julia; Da ist schon was dran. Obwohl es ja eigentlich um etwas sehr Dramatisches geht, haben wir keine traurigen Gesichter, wenn wir über die Arktis reden. Weil wir eher an das wissenschaftliche und das Naturabenteuer zurückdenken, das sich dort momentan noch erleben lässt. Neben ihrer Bedeutung für das globale Klima ist die Arktis eine total schöne und spannende Region, die wir auf keinen Fall verlieren dürfen. MOSAiC könnte in den nächsten Jahrzehnten als die Expedition in die Geschichtsbücher eingehen, die als letzte in Meereis forschen konnte, zumindest im Sommer. Wenn das eintritt, hätte das dramatische Folgen und es wäre auf der ethischen Ebene schwer zu rechtfertigen. Ich persönlich glaube, dass wir die dramatischen Botschaften am besten in Kombination mit unseren positiven Erlebnissen rüberbringen können. Weil das Persönliche hoffentlich die Menschen erreicht und in Erinnerung bleibt.
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