Christine Thürmer, eine der meistgewanderten Frauen der Welt, sitzt auf einer Bank an einer Hausmauer. Sie trinkt, neben ihr steht der Rucksack.

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Eine der meistgewanderten Frauen der Welt Christine Thürmer: «Fitness ist völlig überbewertet»

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Portraetbild Moritz
Moritz
Redaktor, 4-Seasons
© Fotos

Vor über 15 Jahren liess Christine Thürmer ihren Job als Managerin hinter sich und brach völlig untrainiert zu ihrer ersten Weitwanderung auf. Inzwischen hat sie über 60’000 Kilometer zu Fuss zurückgelegt. Hier nimmt sie uns mit in ihr Leben als eine der meistgewanderten Frauen der Welt.

Christine, du giltst als die «meist-gewanderte Frau der Welt». Sind dir solche Superlative wichtig?
Nicht wirklich. Der Titel hat sich eher zufällig ergeben. Als ich 2004 mit den Weitwanderungen angefangen habe, hatte ich gar nicht den Plan, das auf Dauer zu machen. Und es hat zehn Jahre gedauert, bis ich das erste Mal die Zahlen der anderen Weitwanderinnen zusammengerechnet habe. Dann habe ich aber noch lange mit mir gerungen, ob ich den Titel nutzen möchte. Denn den finalen Beweis kann ich natürlich nicht erbringen. Was mich am Ende überzeugt hat, war die Botschaft: «Nicht nur junge, athletische, trainierte Menschen können solche Dinge leisten, sondern auch jemand wie ich – Typ gemütliche Hausfrau.»

Wie bist du zum Weitwandern gekommen?
Wie die Jungfrau zum Kinde. 2003 habe ich noch in der Unternehmenssanierung gearbeitet. Ich war Mitte 30, habe gut verdient und war für einen Urlaub in den USA. Im Yosemite-Nationalpark traf ich ein paar Langstreckenwanderer. Die haben so eine Begeisterung ausgestrahlt, ich war sofort von ihrem Lebensstil fasziniert.

Und dann?
Ein paar Monate später hat mir das Schicksal zwei gewaltige Tritte in den Hintern gegeben: Zunächst wurde mir gekündigt – und zwar wie in einem schlechten Film. Einen Tag vor Weihnachten und mit zehn Minuten Zeit, um meine Sachen zu packen. Ich sass zu Hause und leckte meine Wunden, dann kam der zweite Schicksalsschlag: Ein guter Freund von mir, der genau zehn Jahre älter als ich war, erlitt durch einen Schlaganfall irreparable Hirnschäden und war danach auf dem geistigen Niveau eines Dreijährigen. Ich habe ihn oft im Pflegeheim besucht und mir irgendwann die Frage gestellt: Was hätte er wohl gemacht, wenn er gewusst hätte, welches Schicksal ihm bevorstand? Mir ist klar geworden, dass die wichtigste Ressource im Leben nicht Geld ist, sondern Zeit, weil sie weder planbar noch vermehrbar ist. Kurz darauf habe ich die Entscheidung getroffen, 4’265 Kilometer auf dem Pacific Crest Trail einmal von Süd nach Nord durch die USA zu wandern.

  • Christine Thuermer unterwegs.
    Foto © Andrew Burns
  • Oandu-Ikla-Trail in Estland, Wegabschnitt von oben.

    Der Oandu-Ikla-Trail in Estland ist rund 375 Kilometer lang udn führt durch ausgedehnte Moorlandschaften.

    Foto © Christine Thürmer
  • Zelt am Meer auf Kreta.
    Foto © Christine Thürmer
  • Christine Thürmer im Benediktinerkloster Stift Göttweig in Furth.

    Auf ihren Wanderungen sind Kulturgüter für Christine eine willkommene Abwechslung. Hier: das Benediktinerkloster Stift Göttweig in Furth, Österreich.

    Foto © Christian Biemann
  • Christina Thürmer kocht auf Campingkocher ihr Essen direkt neben dem Zelt.

    Nachtlager im Sommer 2022 auf dem 1200 Kilometer langen Oregon Desert Trail.

    Foto © Andrew Burns

Du sagst selbst: «Ich hatte damals fünf Kilo Übergewicht, einen miserablen Orientierungssinn und war nicht schwindelfrei.» Wie hast du dich vorbereitet?
Bei meinen Recherchen fand ich heraus, dass der entscheidende Faktor bei einer Langstreckenwanderung das Rucksackgewicht ist. Es geht nicht um Kraft, sondern um Ausdauer und mentales Durchhaltevermögen. Durch meinen Beruf liebe ich es, Dinge sehr genau zu analysieren und in endlosen Excel-Tabellen aufzubereiten. Anstatt ins Fitnessstudio zu gehen, habe ich das Gewicht meiner Ausrüstung bis ins letzte Detail optimiert. So stand ich dann im April 2004 gänzlich untrainiert an der mexikanisch-amerikanischen Grenze und wusste: Du musst heute 36 Kilometer laufen, um zur nächsten Wasserquelle zu kommen.

Du hast den PCT im ersten Anlauf geschafft. Ein Jahr später auf dem Continental Divide Trail (ca. 5’000 km) hattest du eine ganz eigene Strategie, um Grizzlybären auf Abstand zu halten ...
 Auf den Fernwanderwegen in den USA sind die Bären natürlich immer ein Thema. Es gibt Regeln, an die man sich halten sollte. Eine davon: Mach die Bären auf dich aufmerksam. Am gefährlichsten sind die Tiere nämlich, wenn sie sich erschrecken. Du musst permanent Geräusche machen, am besten funktioniert die menschliche Stimme. Deswegen habe ich den kompletten Bundesstaat Montana mit der deutschen Nationalhymne auf den Lippen durchquert. Das war das einzige Lied, dessen Text ich komplett auswendig konnte. (lacht)

Es folgten unzählige weitere Wanderungen. Wovon lebst du heute?
In erster Linie von meinen Ersparnissen aus der Zeit, als ich noch als Managerin gearbeitet habe. Das geht aber nur, weil ich von Natur aus sehr sparsam bin. Geld ausgeben bereitet mir keine Freude. Wenn ich in Deutschland bin, wohne ich in einer 35 Quadratmeter grossen Plattenbauwohnung in Berlin-Marzahn und zahle dafür 285 Euro Miete – schön ist es da aber wirklich nicht. Auf meinen Wanderungen schlafe ich fast ausschliesslich im Zelt. Im Schnitt komme ich heute gut mit circa 1’000 Euro pro Monat über die Runden.

«Nicht nur junge, athletische, trainierte Menschen können so etwas schaffen, sondern auch jemand wie ich – Typ gemütliche Hausfrau.»

Wieso verzichtest du seit jeher auf die Zusammenarbeit mit Sponsoren?
Weil ich meine Freiheit und Unabhängigkeit bewahren möchte. Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wann ich wo zu sein habe, welche Produkte ich zu tragen habe und wie ich mich zu vermarkten habe. Ausserdem müsste ich meine Touren mit einem Sponsor im Nacken natürlich fotografisch deutlich besser dokumentieren. Das würde wiederum bedeuten, dass ich eine richtige Kamera mit mir rumschleppen müsste – das wäre für mich aber undenkbar.

Dein Rucksack wiegt gerade einmal fünf Kilogramm. Was ist darin?
Es gibt vier Themen, um die sich alles dreht: Wärme, Wetterschutz, Proviant und Wasser. Alles in meinem Rucksack hängt mit einem dieser Themen zusammen. Mein Einwandzelt wiegt weniger als ein Kilogramm, meine Isomatte reicht nur bis zu den Knien und ich führe nur zwei Sätze Kleidung mit – einen zum Wandern, einen zum Schlafen.

Wie oft brauchst du neue Schuhe?
 Etwa alle sechs Wochen. Je nachdem wo ich unterwegs bin, ist das eine echte logistische Herausforderung. Da kommt mir meine Berufserfahrung sehr zugute. Ich recherchiere jeweils im Vorfeld, wo es die Schuhe gibt, die ich brauche. Dann suche ich Packstationen raus, die auf dem Weg liegen, oder mache Geschäfte ausfindig, in denen ich neue Schuhe kaufen kann.

Multifunktionsschuhe

Wie reagiert der Körper aufs Weitwandern?
Er wechselt relativ schnell in eine Art Fluchtmodus. Du bekommst den sogenannten Hiker-Hunger, denkst den ganzen Tag nur noch an Essen. Der Körper will Reserven aufbauen, weil er ja nicht weiss, wie lange die Flucht noch dauert. Bei den meisten Frauen bleibt irgendwann die Periode aus – auf einer Flucht wäre es schliesslich nicht gerade hilfreich, wenn man schwanger wird. Und der Körper fährt das Immunsystem hoch, Infektionskrankheiten werden besser abgewehrt. Klar, auf der Flucht will man nicht krank werden – ich hatte jedenfalls in all den Jahren noch nie einen Schnupfen auf meinen Wanderungen.

Welche Eigenschaften muss man für eine Weitwanderung mitbringen?
Konsequenz. Du musst bereit sein, deinem Ziel alles unterzuordnen: deine Komfortansprüche, deine Ernährungsgewohnheiten und oft auch deine sozialen Kontakte. Wenn du auf eine Gruppe triffst, die schon beim Abendessen zusammensitzt, dein Tagesziel aber noch kilometerweit entfernt ist, kannst du dich nicht dazugesellen. Das klingt brutal, ist aber die Realität. Völlig über-bewertet ist dagegen die körperliche Fitness – denn die kommt unterwegs von ganz alleine.

Was denken Menschen über das Weitwandern, was einfach nicht stimmt?
Dass so eine Wanderung nur in einer möglichst spektakulären Landschaft Spass macht. In Wahrheit ist die Landschaft irgendwann nur noch Kulisse. In Erinnerung bleiben hinterher die Momente, in denen man sich durchgebissen hat, und die menschlichen Begegnungen. Nur weil man irgendwo ein szenisches Bild von einem Trail gesehen hat, heisst das nicht, dass er auch zu dir passt. Die Landschaft ist nur einer von vielen Faktoren für eine gute Wanderung, wichtig ist beispielsweise auch das eigene finanzielle und zeitliche Budget.

Wie unterscheiden sich Männer und Frauen auf dem Trail?
Vor allem junge Männer wollen immer etwas bezwingen, zum Beispiel den nächsten Berg. Ich stehe daneben und denke mir: Um den Berg kann ich problemlos herumlaufen. Für Männer wird es oft schwierig, wenn es nichts mehr zu bezwingen gibt. Auf dem Continental Divide Trail war ich mit einem Mann unterwegs. Am Anfang rannte er jeden Berg hoch, ich kam kaum hinterher. Dann erreichten wir das Great Divide Basin, eine riesige Hochebene. Da siehst du heute, wo du in zwei Tagen sein wirst. Obwohl mein Begleiter körperlich sicher stärker war als ich, bekam er ein massives Motivationsproblem und brach völlig ein.

Porträtbild von Christine Thürmer beim Wandern.
Foto © Andrew Burns

Christine Thürmer (56)

wuchs in Forchheim in Deutschland auf. Sie studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in Berlin und arbeitete danach in der Unternehmenssanierung, wo sie angeschlagene Betriebe wieder auf Kurs brachte. 2004 wanderte sie den Pacific Crest Trail (4’265 km). Heute ist sie sechs bis acht Monate pro Jahr in aller Welt unterwegs, macht neben ihren Wanderungen auch Kanu- und Velotouren. Alle ihre Touren hat Christine Thürmer hier zusammengetragen.

Haben Frauen also von Natur aus bessere Voraussetzungen für die Langstrecke?
Die Statistik zeigt jedenfalls, dass sie seltener abbrechen. Es gibt auf den amerikanischen Trails eine Tradition: Am Ziel ziehen sich alle nackt aus und machen ein Foto. Über die Jahre habe ich viele dieser Bilder gesehen und irgendwann ist mir aufgefallen, dass die Männer oft deutlich erschöpfter wirken. Es ist zwar nicht wissenschaftlich erwiesen, aber meine These ist, dass Männer beim Weitwandern mehr an ihre Grenzen gehen und deswegen am Ende kaum noch Puffer da ist. Ich glaube, Männer können besser punktuell Spitzenleistungen bringen, Frauen können dafür besser mit ihrer Energie haushalten und sind mental belastbarer.

Für dein aktuelles Buch warst du viel in Europa unterwegs: Was unterscheidet europäische Wanderwege von denen in den USA?
 Ich finde, Europa ist total unterbewertet. Die USA sind circa 230-mal grösser als die Schweiz und haben 37-mal so viele Einwohner, das Wanderwegenetz ist aber nur rund 5-mal so lang. Das Angebot an Wegen ist in den USA also gemessen an der Grösse und der Einwohnerzahl vergleichsweise gering. Dadurch bist du dort auf den Trails selten wirklich alleine unterwegs. Hier in Europa haben wir dagegen schier unendliche Möglich-keiten und eine wahnsinnige kulturelle Vielfalt direkt vor der Tür. Klar, du wanderst in weiten Teilen Europas immer durch Kulturlandschaften. Das ist aus meiner Sicht aber nicht schlechter oder besser als Wildnis, sondern einfach nur anders.

In Estland hattest du ein massives Problem mit Bremsen. Was war deine Lösung?
Ich wollte den Oandu-Ikla-Trail wandern. Kaum war ich losgelaufen, wurde ich von Heerscharen schwarzer, dicker Bremsen attackiert. Körperwärme, Bewegung und vor allem Schweiss locken die Insekten an. Ich war also das perfekte Opfer und wurde so zerstochen, dass ich irgendwas machen musste. Erschwerend kam hinzu, dass ich nur eine Dreiviertel-Hose dabeihatte. Dann fand ich im Internet einen Tipp: Mal dich an wie ein Zebra! Das Streifenmuster soll angeblich Bremsen zuverlässig fernhalten. Also habe ich mir kurzerhand eine lange Hose mit Zebramuster besorgt und siehe da: Ich hatte Ruhe! (lacht) Grund dafür ist ein optischer Effekt, die Bremsen wissen nicht mehr, wo sie landen sollen. Der Trick funktioniert übrigens nicht bei Stechmücken …

Bist du beim Wandern manchmal einsam?
Nein, ich bin zwar bewusst immer alleine unterwegs, aber nie einsam. Das ist ein grosser Unterschied. Das Alleinsein ist für mich eher eine Befreiung, ich geniesse es sehr, frei entscheiden zu können und mich nicht dauernd abstimmen zu müssen. Was die Einsamkeit angeht: Ich treffe ja ständig Menschen und ich bin auch mit meinen Freunden im engen Kontakt. Gerade in Europa telefoniere ich manchmal stundenlang, während ich wandere.

Wie begegnest du unterwegs Menschen?
 Auf so langen Touren führst du ein vergleichsweise einfaches Leben. Du musst nicht die Kinder vom Sport abholen oder über die Hypothek auf dein Haus nachdenken. Gerade wenn du alleine unterwegs bist, wird der Kopf irgendwann total leer und begierig nach Input. Wenn ich in dieser Situation Menschen treffe, dann habe ich ein wahnsinniges Interesse an denen. Die Menschen wollen oft, dass ich aus meinem Leben erzähle. Ich möchte aber viel lieber zuhören, nachfragen und später – wenn ich wieder alleine bin – in Ruhe darüber nachdenken.

Woher nimmst du deine Motivation?
Es gibt zwei verschiedene Typen von Motivation für eine Weitwanderung: Der eine hat eine Von-weg-Motivation, will einer Lebenssituation entfliehen und Probleme verarbeiten. Das ist für meine Begriffe eine negative Motivation, das Wandern ist Mittel zum Zweck. Ich dagegen habe eine Hin-zu-Motivation: Ich habe mich bewusst für das Wandern und diesen Lebensentwurf entschieden. Ich bin glücklich und will nicht ankommen, ich will einfach nur immer weiterwandern, mindestens noch die nächsten 20 Jahre …

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