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Wanderung rund um die Schweiz

Berg hell erleuchtet von der Sonne, im Vordergrund eine Alpwiese.
Benjamin
Gastautor 4-Seasons
© Fotos

2’250 Kilometer, 87’000 Höhenmeter, 81 Tage: Im Sommer 2022 umrundete Benjamin «Pazzo» Betschart die Schweiz – zu Fuss. In Auszügen aus seinem Tourenbuch nimmt er uns mit auf seine Reise.

«Z’Fuess? Bisch verruckt?» Diese Aussage hörte ich häufig, wenn ich Leuten von meinem Projekt erzählte. Aber irgendwie musste ich ja schliesslich zu meinem Spitznamen Pazzo (italienisch: verrückt) gekommen sein, den mir eine Ultraleicht-Trekkingkollegin mal verpasst hat. Entstanden ist die Idee der Schweiz-Umrundung während meiner 38-tägigen Wanderung auf der Grande Traversata delle Alpi (GTA) im Jahr 2020. Mir war klar, dass ich wieder eine lange Tour machen will. Vielleicht den PCT an der Westküste der USA? Nein, zu populär und wieso eigentlich irgendwohin fliegen? Vor einigen Jahren hatte ich meine Heimatgemeinde zu Fuss umrundet, da wäre mein Heimatland nun doch nur logisch… Nach vielen Stunden Planung am Computer und Optimierung der Ausrüstung – für Ultraleicht-Wandernde sind unter fünf Kilo Basisgewicht die Schallmauer – machte ich mich am 25. Juni in Islisberg im Kanton Aargau auf den Weg.

Proscht

Tag 4 | Rheinfelden

Ich bin zwar allein unterwegs, einsam werde ich aber auch die nächsten Monate nicht sein. Einige Kilometer vor Rheinfelden halten drei Velofahrer neben mir. Während sie mich neugierig über meine Pläne ausfragen, offerieren sie mir ein Bier aus ihrem Rucksack. Dankend nehme ich an – nicht ahnend, dass es nicht das letzte Getränk mit den dreien sein sollte. Später am Tag treffe ich sie nämlich in der Altstadt von Rheinfelden wieder. Es werden einige lustige Stunden...

Der Wanderer Benjamin Betschart macht ein Selfie von sich, im Hintergrund sieht man die Berge.
Foto © Benjamin Betschart

Benjamin Betschart (38) ...

ist ein leidenschaftlicher Wandervogel, Draussenschläfer, Geocacher und Hobbyfotograf. Nach Tausenden Kilometern auf Schweizer Wanderwegen und der Umrundung seiner Heimatgemeinde -Muota-thal wanderte er 2020/21 von der Schweizer Grenze auf der GTA ans Mittelmeer. Vergangenes Jahr folgte dann der Rundlauf um die Schweiz.

Waschtag

Tag 6 – 14 | Jura

Der Jura begrüsst mich mit einem kräftigen Schauer. Gut, dass ich meinen kleinen Regenschirm eingepackt habe. Auf einem Campingplatz am Doubs werde ich auf einen Kaffee eingeladen. Nachdem ich die vergangenen Tage kaum einen Menschen sah, ist es schön, mal wieder mit jemand anderem als mit mir selbst zu sprechen. In Les Brenets gönne ich mir zum ersten Mal ein Hostel und meinen Kleidern eine Wäsche – zumindest kurzfristig ist mein Geruch wieder gesellschaftstauglich! Die nächsten Tage führen mich – teilweise auf dem Jura-Höhenweg – über La Brévine, den pittoresken Lac des Taillères in Richtung Genf. Ein erster tierischer Höhepunkt sind die vielen Gämsen rund um den Lac de Joux, vor allem das Kitz, welches gerade von seiner Mutter gesäugt wird.

Französisch für Anfänger

Tag 16 – 20 | Rund um Genf

Die schöne Landschaft wird allmählich von Genf und seinen Vororten verdrängt. Zeit für eine vorerst letzte Pause und, wenn ich schon mal hier bin, einen Besuch beim Jet d’eau. Auf den Balcon du Léman freue ich mich besonders. Berge, (kämpfende) Steinböcke, Aussicht und einsame Wanderwege, was für ein Hochgenuss! Kaum zurück in der Schweiz lerne ich aber erstmals mit voller Wucht die negativen Seiten des schönen Sommers kennen: abgestellte Brunnen und ausgetrocknete Bäche. So wandere ich stundenlang mit einem kümmerlichen Rest Wasser durch die heissen Berge. Wie feiere ich den Brunnen, den ich später auf einer verlassenen Alp finde! Als Zückerchen gönne ich mir am Abend ein Bier im Bergrestaurant. Das Wirtepaar fragt mich nach meiner Route und ist von meinem Projekt so begeistert, dass die beiden mich zum Znacht und zum Frühstück einladen. Mit dem rot verfärbten Mont Blanc im Hintergrund schmeckt das Essen gleich doppelt gut. Auch die kümmerlichen Reste meines Schulfranzösisch erleben ein Comeback.

Alte Wunden

Tag 23 – 26 | Wallis

Beim Abstieg vom Lac d’Émosson erinnert mich ein schmerzhaftes Ziehen im linken Bein an eine alte Verletzung aus dem vergangenen Winter, die mich lange schachmatt gesetzt hatte. Der Gedanke, nach wenigen Hundert Kilometern schon aufgeben zu müssen, treibt mir die Tränen in die Augen. Nach Anrufen bei meiner Partnerin und meinem Osteopathen fasse ich neuen Mut und beschliesse, eine ausserplanmässige Pause in Martigny einzulegen. Mit dem zusätzlichen Gewicht einer Tube Perskindol, dem Vorsatz, noch ausgiebiger zu dehnen (meine 38 Jahre lassen sich nicht leugnen), und einem neuen Paar Trailrunningschuhe mache ich mich wieder auf den Weg. Die nächsten Tage werde ich der Tour du Mont Blanc folgen. Unterwegs treffe ich Michael aus Israel, der die Haute Route wandert. Da sich unsere Wege überschneiden, beschliessen wir, die nächsten Tage zusammen zu laufen. Der Kontrast könnte nicht grösser sein: Seine auf Komfort ausgerichtete und meine minimalistische Ausrüstung bescheren uns viele Lacher.

Alpiner Höhepunkt

Tag 27 – 39 | Italien

Auf dem grossen St. Bernhard beginnt ein neuer Abschnitt, welcher mich für längere Zeit nach Italien und auch auf den Col de Valcournera, mit 3’072 Metern der höchste Punkt meiner gesamten Tour, führt. Auf der anschliessenden Suche nach einem guten Zeltplatz treffe ich – neben einem fotobegeisterten Steinbock – eine Gruppe mit Ultralight-Equipment. Wie sich im Verlaufe des lustigen Abends herausstellt, kenne ich einen der dreien aus einem früheren Schriftwechsel. Wie klein die Welt doch ist! Zurück in der Schweiz verbringe ich im Zwischbergental einen amüsanten und feuchtfröhlichen Abend. An den Kopfschmerzen des nächsten Tages bin ich definitiv selber schuld. Da noch dazu unser Nationalfeiertag ist, gönne ich mir eine gemütliche Etappe mit nur 19 Kilometern und 640 Höhenmetern – für heute aber mehr als genug. Am meisten mag ich, dass ich alles, was ich brauche, in meinem 40-Liter-Rucksack tragen kann. Das bedeutet aber auch, regelmässig den Proviant aufstocken zu müssen. In Italien muss ich mich manches Mal sputen, um noch vor der langen Mittagspause der Läden einkaufen zu können. Dafür «vernichte» ich oft einen Teil der feinen Lebensmittel als spätes Frühstück direkt vor dem Laden.

  • Karte der Schweiz, eingezeichnet ist die Wanderung rund um die Schweiz.
  • Zelt in den Bergen bei Dämmerung.

    Im Aostatal auf 2200 Metern Höhe. Nicht im Bild: Neugierige Rinder, die kurz zu Besuch kamen.

    Foto © Benjamin Betschart
  • Bild einer Schüssel Pasta mit Tomatensauce draussen.
    Foto © Benjamin Betschart
  • Ein Mann auf einer Wanderung, er macht ein Selfie mit einer Ziege.

    Zutrauliche Geissen im Vergeletto-Tal im Tessin.

    Foto © Benjamin Betschart
  • Holzhaus im Aostatal, im Hintergrund Berge und ein türkiser Bergsee.

    Blick auf den Stausee Lago di Place Moulin im Aostatal.

    Foto © Benjamin Betschart

Seelenfutter

Tag 41 – 45 | Tessin

Am Abend meines 41. Wandertages treffe ich im Rifugio Corte Nuovo auf drei andere Wanderer, die in der entgegengesetzten Richtung unterwegs sind. Das kurze, aber intensive Schauspiel von Sonnenuntergang und Gewitter geniessen wir im Wissen, dass wir in der Hütte auf dem ausgesetzten Grat gut geschützt sind. Beim Zusammenpacken am nächsten Morgen passiert mir ein Missgeschick: Mein kleiner Spirituskocher purzelt den Hing hinunter und bleibt auch nach einer halbstündigen Suche im Laub verschwunden. Ich habe nicht viel dabei und jeder meiner Ausrüstungsgegenstände ist mir in den letzten Jahren ans Herz gewachsen. Mit Wut im Bauch baue ich mir mithilfe der kleinen Klinge aus der Victorinox Swiss Card aus einer weggeworfenen Dose einen neuen Kocher. Bis zum Schluss der Tour sollte dieser mir treue Dienste leisten. Einige Tage später treffe ich auf dem wunderschönen Gratweg zum Monte Lema auf den Italiener Amerigo. Wir geniessen die phänomenale abendliche Aussicht auf den Lago Maggiore. Als wir auf dem Grat noch auf einen kleinen Selbstbedienungskiosk mit Kühlschrank stossen, ist unser Glück vollkommen. In Mendrisio angekommen, erwartet mich ein «Fresspäckli» von meinem Bruder und dessen Frau. Jeder, der die Linzertörtli meiner Schwägerin kennt, wird meine Freude nachvollziehen können.

Nochmal gutgegangen

Tag 52 – 60 | Graubünden

Ich will einen Abstecher auf den Piz de Setag machen (2’476 m) und lasse meinen Rucksack am Grat zurück. Doch plötzlich kippt er um und fällt hinunter. Scheisse, ist mir das gerade wirklich passiert? Weil ich ohnehin nichts ändern kann, gehe ich trotzdem zum Gipfel, bevor ich anschliessend in der Falllinie zum Rucksack absteige und unterwegs meine Ausrüstung einsammle. Ich rechne mit dem Schlimmsten, habe aber Glück im Unglück: Zwar gibt es einige Schäden und Verluste, aber nichts, was meine Tour gefährden würde. Mit dem Schreck in den Knochen und zwei verlorenen Stunden mache ich mich wieder auf den Weg. Ende August kündigt sich in der Region Pontresina mit einer kalten, nebligen Nacht bereits der Herbst an. Über den sonnigen Berninapass gehts nach Poschiavo, wo ein Ruhetag und ein Paar neue Schuhe angesagt sind. Die Verkäuferin will mir anfänglich nicht glauben, dass meine Schuhe keine zwei Monate alt sind.

Weidmannsheil

Tag 64 | Engadin

Nach dem Val Sinestra tue ich mich wegen der nun laufenden Jagdsaison etwas schwer mit der Zeltplatzsuche. Da erneut Regen einsetzt, nutze ich das Sonnensegel einer abgelegenen Hütte für ein Abendessen im Trockenen. Plötzlich taucht eine ältere Dame auf. Ihr Mann und ihre Enkelin seien auf der Jagd und sie würde für sie kochen. Ich solle doch in die Hütte an die Wärme kommen. Am Ende werde ich einmal mehr zu einem fürstlichen Essen eingeladen, einmal mehr bin ich dankbar für die riesige Gastfreundschaft.

Finale

Tag 70 – 81 | Rheintal

Ich bin mit meiner Kollegin Ursina verabredet, die mich zwei Tage durchs Rheintal begleiten will. Was freue ich mich, mal wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen! Bei guten Gesprächen fliegen die Kilometer nur so dahin. Nach der Verabschiedung geht es für mich weiter entlang von Rhein und Bodensee, bis ich nach 81 ereignisreichen Wandertagen glücklich wieder nach Hause komme.

Was bleibt von dieser Reise? Seit meiner Rückkehr vergeht kein Tag, an dem ich nicht mit Wehmut an meine Wanderung zurückdenke. Es gab nicht den Höhepunkt oder den schönsten Ort. Vielmehr erinnere ich mich mit Freude an das einfache Leben unterwegs zurück; an die Begegnungen, die Glücksgefühle und an die Dankbarkeit für meine Gesundheit. Den Gebirgsbach mit seinem klaren, köstlichen Wasser, an das Bad im eiskalten Bergsee. Und an die Zeit, die ich unterwegs ganz allein mit mir und meinen Gedanken verbringen durfte.

  • #Trekking

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