Iris Kürschner
Der legendäre Europaweg führt während zwei Tagen durch das tiefste Tal der Schweiz, entlang der höchsten Gletscherberge der Alpen und über eine der längsten Fussgängerbrücken der Welt.
«Verschüttet. Nach dem Niedergang eines Felssturzes im August 2018 auf den Europaweg bei St. Niklaus haben die Behörden eine Sperrung der beliebten Route verfügt», verkündet der «Walliser Bote» unter einem Bild aus Schutt und Asche auf seiner Titelseite ein Jahr nach dem Unglück. Für viele Wanderer war diese Nachricht ein Schock, auch für mich. Der beliebte Europaweg gesperrt? Das kann nicht sein. Ungläubig zeige ich Dieter die Schlagzeilen. Nur ein paar Wochen zuvor wanderten wir eben auf diesem Europaweg und waren uns einig, auf einem der eindrücklichsten Pfade unterwegs zu sein. Die Wegführung spannend und abwechslungsreich, so wie wir es lieben. Exponierte Abschnitte, die die Nerven kitzeln, wechseln sich mit idyllischen Wiesenrücken ab, wo man die Seele baumeln lassen und das gigantische Panorama in aller Musse bestaunen kann. Logisch, dass so ein Weg in meinem neuesten Wanderbuch nicht fehlen darf. Das Kapitel über den Europaweg war gerade geschrieben – alles für die Katz?
Rückblick in die 90er-Jahre: Wo die höchsten Berge der Schweiz in den Himmel ragen, braucht es einen besonderen Weg, dachten sich die fünf Anrainer-Gemeinden Grächen, St. Niklaus, Randa, Täsch und Zermatt und schufen 1000 Höhenmeter über dem Talgrund eine 36 Kilometer lange Panoramaroute. Im Sommer 1997 wurde sie feierlich eingeweiht. Zwei Jahre später folgte die Eröffnung der Europahütte als wichtiger Stützpunkt auf etwa halber Strecke dieser insgesamt rund 14-stündigen Mammutroute durch das Mattertal, auf der um die 2000 Höhenmeter zu bewältigen sind.
Doch in den Steilflanken des Tals wirken mächtige Kräfte. Ein instabiles Gelände, in dem Blockgletscher wandern, Murenabgänge und Rutschungen zum Alltag gehören. Immer wieder müssen Abschnitte des Weges teils jahrelang gesperrt werden. Wie das Grabengufer bei der Europahütte ob Randa. 2010 fegte hier ein Felssturz den Wanderweg hinweg. Zur Wiedereröffnung im Juli 2017 schrieb die «NZZ»: «Die Felsbrocken in der Grösse von Einfamilienhäusern hüpften zu Tal wie Tischtennisbälle. Sie legten jahrhundertealte Lärchen flach und kamen erst tief unten im Talgrund zwischen Randa und Täsch zum Stillstand. Auf ihrem Weg in die Tiefe zerstörten sie das Kernstück des Wanderweges, eine 250 Meter lange und 25 Meter überm Grund angelegte Hängebrücke. Sie war erst zwei Monate zuvor, im Juli 2010, eröffnet worden.» Tatort des jüngsten Felssturzes im August 2018 war der Grosse Graben zwischen St. Niklaus und Herbriggen. Aufgrund der Expertise von Geologen, dass sich die Steinschlag- und Felssturzgefahr am betroffenen Wegabschnitt zwischen Mittelberg und Breithorn in Zukunft eher verschlimmern werde, beschloss der Gemeinderat die Sperrung.
Eine grossräumige Umgehung auf Nebenwegen leitet seither die Europaweg-Wanderer unterhalb der Waldgrenze von Grächen nach Herbriggen, um dann wieder zum bestehenden Europaweg am Galenberg aufzusteigen. Dieter und ich sind zunächst skeptisch, wollten wir doch eine Panoramaroute nicht mit einer Waldroute tauschen, einen Höhenweg nicht mit dem Abstieg tief in den Talgrund. Doch die Recherche vor Ort belehrt uns eines Besseren und wir stellen freudig fest: Zwar verläuft die neue Streckenführung deutlich tiefer als ursprünglich, dennoch zeigt sie sich nicht weniger abenteuerlich und abwechslungsreich.
Der schönste Start auf den Europaweg beginnt für uns mit einer Übernachtung im Hotel Zum See. Das altehrwürdige Holzchalet liegt zwanzig Fussminuten oberhalb von Grächen einsam an einem verträumten Bergsee mit unverbautem Blick in die Walliser Gipfelwelt. Grächen liegt laut Niederschlagsstatistik auf einer der trockensten Höhenterrassen der Schweiz. Kein Wunder, dass hier gleich vier Suonen das kostbare Nass vom Riedbach holen. Er wird vom Riedgletscher gespeist, der sich längst weit zurückgezogen hat. Die unterste Suon, die Bineri, führt uns oberhalb von Gasenried aussichtsreich zur Wallfahrtskapelle Schalbettu. Weit über unseren Köpfen glitzert der Riedgletscher. Einst war er bis Dorfnähe vorgestossen und hatte immer wieder die lebenswichtigen Bewässerungskanäle zerstört. Bis es den Altvorderen reichte und zwei Patres beauftragt wurden, den Gletscher zurückzuweisen. Mit Erfolg. Zum Dank erbauten sie 1672 die Kapelle, zu der die Dorfbewohner jedes Jahr am St. Joderntag pilgerten. Dass sich die Gletscher so stark zurückziehen, ging dann aber doch zu weit. 2010 holte man sich den Segen des Papstes ein, das Gelübde umdrehen und für einen Zuwachs der Gletscher beten zu dürfen.
Auch Dieter lässt es sich nicht nehmen, ein Kerzlein zu Ehren der Gletscher anzuzünden. Das Brunegghorn schräg gegenüber sieht schon fast wie ein Wüstenberg aus. Wir tauchen in den Wald und doch öffnen sich immer wieder eindrückliche Panoramen. Bald windet sich der Forstweg als Pfad durch ein Felsenchaos. Wurzeln umschlingen haushohe Steinblöcke. Es riecht nach feuchtem Moos und Pilzen. Dann stellt sich der Grosse Graben in die Quere. Hier unten weitaus schmaler als in der Höhe, doch mühsam zu durchwandern. Das Bröselwerk an den Rändern erfordert den Einsatz der Hände.
Wir folgen der Höhenlinie durch ein Blockfeld, bis wir wieder auf Markierungen stossen. Sie leiten uns am Rande eines Grabens empor, schliesslich mit Seil entschärft im Schutz von Felsen auf seine andere Seite. Kurz vor dem Etappenziel passieren wir die Mariengrotte. «Sie wurde aus Dank eingerichtet, als im Frühjahr 1959 ein Bergsturz Herbriggen bedrohte und die Menschen drei Monate evakuiert werden mussten», erzählt uns später Rosi, die gute Seele vom Hotel Bergfreund, der einzigen Unterkunft in Herbriggen. Heute sind in den Hängen über dem Dorf Steinschlagschutzdämme und zwei Dutzend GPS-Geräte installiert, die jede Bewegung des Untergrunds registrieren.
Morgentau glitzert an den Gräsern, als wir in steilen Serpentinen zum Galenberg aufsteigen. Immer mächtiger wird das Weisshorn. «Einen Diamanten in der Alpenkrone» hatte Joseph Anton Berchthold, Domherr von Sitten und Vermesser des Wallis, den Berg genannt. Und der irische Physiker und Erstbesteiger John Tyndall schwärmte: «perhaps the most splendid object in the Alps.» Seine ebenmässige Pyramide, die das Matterhorn sogar an die 30 Meter überragt, wird uns für die nächsten Tage Blickfang bleiben. Als dünner Faden schlängelt sich der Europaweg durch die rauen Flanken von Dirru- und Hobärghorn. Irgendwann ums Eck gebogen, leuchtet wie eine klaffende Wunde der Bergsturz von Randa aus dem Talgrund herauf. Nicht die einzige Katastrophe, die das Dorf bedrohte, aber die auffälligste. Immer wieder mal krachen Eisbrüche aus den Klippen des Weisshorns. Rund um die Uhr wird der Berg von Spezialisten beobachtet. Auch Marcel Brantschen, Hüttenwirt der Europahütte, die wir am Spätnachmittag erreichen, bekam die Klimaerwärmung deutlich zu spüren. Sechs Jahre lang war der Europaweg am Grabengufer, quasi vor der Hüttentür, unterbrochen. Weil die Umgehung bis fast hinunter nach Randa führte, blieben ihm die Gäste aus. «Tatsächlich habe ich schon mit dem Gedanken einer anderen Hüttenübernahme gespielt», bekennt er. Heute freut sich der Hüttenwirt, dass er durchhielt.
Im Sommer 2017 wurde unterhalb der Europahütte die längste Fussgänger-Hängebrücke der Welt eingeweiht. Unglaubliche 494 Meter lang spannt sie sich 85 Meter hoch über dem Dorfbach und so weit von der instabilen Zone des Grabengufers entfernt, dass kein Steinschlag mehr gefährlich werden kann. Seither kann Marcel Brantschen über die Hüttenauslastung nicht mehr klagen. Auf seiner Terrasse degustieren wir Johannisberg, einen süffigen Weisswein der Kellerei Gregor Kuonen, aus dem man die Sonne des Wallis herausschmeckt. Ein edles Etikett mit der Charles-Kuonen-Hängebrücke schmückt die Flasche. «Der Namensgeber ist Mitgründer der Familienkellerei aus Salgesch», klärt uns Marcel auf, «und stiftete den grössten Part der für den Brückenschlag notwendigen 750’000 Franken.»
Anderntags fiebern wir schon beim Zmorge der gigantischen Hängebrücke entgegen. Dort angekommen, überrascht uns eine solide Konstruktion. Das Schwanken beim Gehen hält sich in Grenzen, obwohl fast ein halber Kilometer durch die Luft zurückgelegt werden muss. Zu verdanken ist das einem neu entwickelten und patentierten Dämpfungssystem. Weiter führt die Route in den tiefen Einschnitt des Wildikin. Ein spektakulärer Abschnitt, mal in den Fels geschlagen und durch Tunnelgalerien, dann wieder über Edelweisswiesen und Murmeltiergelände. Danach zwingt uns ein gewaltiger Schuttkegel, bis Bränd oberhalb vom Täschgufer abzusteigen. Im Schutz einer langen Steinschlaggalerie und drei kurzer Wellblechtunnel überwindet man die losen Gesteinsmassen. Die Beschädigungen im Stahlbeton verraten, dass man das Warnschild ernst nehmen sollte.
Lärchenwald strahlt seinen Zauber aus, saftiges Gras überzieht den Boden wie mit Samt. Bald führt die Route wieder mit freier Schau, diesmal zum Matterhorn, sonnseitig des Mellichbachs in den nächsten gewaltigen Talschluss. Über der Täschalp gleissen die Gletscher des Rimpfischhorns. Gleich am Anfang der Alpsiedlung lockt der Gastgarten der Täschalp-Lodge. Hier wird noch selbst gekocht, mit frischen Zutaten. Und so schmeckt es auch: die Röschti nach echten Kartoffeln, die Suppe nach frischem Gemüse.
Die Lodge hiess vormals übrigens Europaweghütte, aufgrund der Namensähnlichkeit mit der Europahütte standen immer wieder hier wie dort verwirrte Gäste vor der falschen Türe, berichtet uns das Hüttenteam. Wir wählen die Variante des Europaweges über die Pfulwe. Anspruchsvoller und deshalb einsamer, ausserdem landschaftlich reizvoller. Die Lage der Täschhütte toppt alles – eine Aussichtsterrasse par excellence. Flammend färbt sich der Abendhimmel über Weisshorn, Schällihorn, Zinalrothorn. Golden glitzern die Gletscher. Ein Szenario, das dank der Panoramafenster auch direkt in die Küche fällt. Sie könne sich keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen, sagt Renata Schmid. Seit 2018 stemmt die sympathische Walliserin die Bewirtschaftung der Täschhütte. Und manchmal hat sie auch etwas Zeit für Ausflüge. Mit leuchtenden Augen erzählt sie von den Naturschönheiten der Umgebung, vom anderthalb Stunden entfernten Alphubelsee, der in der Morgensonne so herrlich türkisfarben leuchtet. Oder vom «Inkafriedhof» in einer Lücke am Wissgrat, wo unzählige Steinmännchen den Panoramablick ehren. Ein Kraftort. Alfons Lerjen, langjähriger Vorgänger von Renata, taufte ihn so, inspiriert von seiner Bergsteigerei in Südamerika.
Über «Arschchumme» und «Pfulwe» wandern, das klingt herb und rau und ist es auch. Zugleich zeigt sich die Route aber auch lieblich und verträumt. Mitunter führt der alpine Höhenweg durch Meere von Edelweiss, und weiter oben strahlt ein See in Herzform aus den Schneeresten. «Pfulwe» bedeutet auf Walliserdeutsch Kissen. Was aber nichts mit weichen Polstern zu tun hat, sondern mit harter Pillow-Lava, sagt Jürg Meyer. Der Geologe und Bergführer vermittelt auf seiner jährlichen «Rocks around Zermatt»-Exkursion tiefe Einblicke in die Geologie.
Als alles hier noch unter einem Ozean lag, strömte Lava aus den Tiefen der Erde. Durch den Kälteschock des Wassers erstarrte die heisse Gesteinsschmelze zu Kissen, die während der Alpenentstehung in die Höhe gelangten. Auf der Suche nach diesem Phänomen kommt einem aber ein anderes dazwischen: nämlich das Staunen über das Matterhorn. Und nicht nur. Als würde ein Vorhang aufgehen, blendet da ein ganzes strahlendes Gebiss an Viertausendern.
Durch Schuttgelände steigen wir in ein verwunschenes Tälchen ab. Eingepfercht zwischen dem Berg und der mächtigen Moräne des Findelgletschers. Ein schmaler Pfad balanciert über ihren Rist. Mal rieselt Sand links und rechts herab, mal kollert ein Stein in die Tiefe. Dazu braucht es nicht einmal eine Erschütterung. Die Wände der Moräne bilden eine sich ständig wandelnde Skulptur. Ein zerbrechliches Gebilde. Selbst dort, wo die Berge unverrückbar scheinen. Wir sitzen noch lange auf der Moräne, beobachten das Gletscherwasser, das wie Adern durch die Schwemmebene mäandert und langsam aber beständig diese atemberaubende Landschaft formt.
Direkt zu den Infos zum Europaweg.Anreise: Allein schon um teure Parkprobleme zu vermeiden, fährt man am besten mit der Bahn ins Wallis, über Visp nach St. Niklaus. Gleich am Bahnhof wird in das Postauto nach Grächen umgestiegen. Und vom autofreien Zermatt gehts sowieso nur umweltfreundlich per Bahn zurück.
Karten: Swisstopo 1:50’000: Blatt 274T Visp sowie Blatt 284T Mischabel.
Literatur: Mit vielen Hintergrundgeschichten: Wanderführer «Oberwalliser Südtäler» von Iris Kürschner, Rotpunktverlag Zürich, Juni 2020.
Unterkünfte
Grächen: Hotel Zum See
Tel. 027 956 24 24, hotel-zum-see.ch
Herbriggen: Hotel Bergfreund
Tel. 027 955 23 23, hotel-bergfreund.ch
Europahütte, 2220 m, geöffnet Ende Juni bis Ende September
Tel. 027 967 82 47, randa.ch
Täschalp: Restaurant & Lodge, 2225 m, geöffnet Ende Juni bis Ende September
Tel. 027 967 23 01, taeschalp.ch
Täschhütte, 2701 m, bewirtschaftet Ende Juni bis Anfang Oktober, Winterraum
Tel. 027 967 39 13, taeschhuette.ch
Berghotel Fluhalp, 2620 m
Tel. 027 967 25 97, fluhalp-zermatt.ch
(Mit der TransaCard immer kostenlos)